Mit dem Volksporsche in die 80er

Gerald Fricke: Der Volksporsche. Auftritt bei „Bohlweg-Zeiten. Die 80er in Braunschweig“, Buchhandlung Graff, Braunschweig, 8. Oktober 2012.

Kein Ballgefühl: Gieriges Kleben am Zaun

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Warum wird man eigentlich Fußballfan? Mein Auslöser war seltsamerweise die völlig vergurkte WM 1978 in Argentinien. Erweitern wir die Frage: Warum wird man Fan von Eintracht Braunschweig? Nun, in dieses Dasein wird man wohl schlicht und einfach geworfen. Die Treue zu einem Verein bedeutet eben keine moralische Wahl wie Tapferkeit oder Freundlichkeit, sondern eher eine „Warze oder ein Buckel, etwas was Dir anhaftet“, wie es der große Nick Hornby („Fever Pitch“) ausdrückt. Bei mir war‘s mein erstes Spiel im Stadion, in meiner ersten Saison 1978/79. Mein Onkel hatte mich, als kleinster Pik-Bube, zum Saisonauftakt mitgenommen und ich klebte gierig am Zaun. Gegen, ausgerechnet, die „Geißböcke aus Köln“, wie es in der ARD-Moderatorenakademie wohl seit Jahrzehnten gelehrt wird. Eine rauschende Ballnacht mit einem akkuraten 1:0 von Danilo Popivoda folgte. Weniger schön, auch das muss natürlich erzählt werden, war dann das 0:8 im folgenden Abstiegsjahr in Köln. Kurz darauf wurde dann in hoher Not „Rakete“ Eggeling verpflichtet, aber die hat auch nicht mehr so richtig zünden wollen. Im Rückspiel konnten dann wieder Trimhold und Popivoda ein astreines 2:1 knipsen …

Eines der schönsten Spiele gegen Kölle – mit Pierre Littbarski und Toni Schumacher – aber war zweifelsohne das Saisonfinale 1982; an einem herrlichen Maientag gab‘s ein lässiges und völlig bedeutungsloses 4:4. Achtmal klingelingeling: 4:4! Die Namen der Eintracht-Torschützen, ich darf zitieren, wir erheben uns bitte von den Plätzen: Wolfgang Grobe, Ronnie Worm, Hans-Heinrich Pahl, Peter Geyer. Welch‘ Musik! Gar nicht schön dann wieder, typisch Eintracht, die Saison-Eröffnung 1984, 1:3 gegen Köln. Torschütze: Peter Lux. Nun ja …

Warum weiß man diesen ganzen Kram noch? Und was macht einen Fußballfan nun wirklich aus? Lassen wir besser nochmals Nick Hornby antworten: Ein Fußballfan ist besessen und exentrisch, fährt an einem „saukalten Januarnachmittag“ ganz allein hundert Kilometer zu einem Spiel der Reservemannschaft, obwohl er das Spiel hasst. Er denkt nicht, denn wer zuviel versteht, hört auf, Fan zu sein. Er hat ein lächerlich geniales Gedächtnis, was leicht zu Pedanterie führt: „Warum fühle ich mich gezwungen, wenn mir jemand erzählt, dass er 1976 einen 5:2-Sieg gegen Newcastle gesehen hat, zu bemerken, dass das Spiel 5:3 ausgegangen ist? Warum kann ich nicht höflich sagen: Ja, das war ein tolles Spiel?“ Kein Nicht-Fan kann das verstehen. Leider wird die Fußballbesessenheit von der Gesellschaft nur unzureichend akzeptiert, „Heimspiel gegen Sheffield United“ gilt bei Hochzeitseinladungen nicht als annehmbarer Absagegrund.

Überhaupt: Ein Fan amüsiert sich, indem er leidet. Besessenheit ist nicht lustig und Besessene lachen nicht. „Ich wollte beim Fußball einfach keinen Spaß haben. Ich hatte überall sonst Spaß, und es hing mir zum Hals raus. Ich war melancholisch, und wenn ich meinem Team zuschaute, konnte ich die Melancholie auspacken und ihr etwas Auslauf verschaffen.“

Aber Achtung: Bitte nicht heute!

Mein "Sieg in Rom", 1980

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Naja, ok, das war schon zur Europameisterschaft 2008. Nur das Wort „Querdenker“ bitte mit dickem Edding streichen, sonst passt alles, danke!

Aus: Braunschweiger Zeitung vom 5.6.2008

Kein Ballgefühl: Mitfahren am Sonntag

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Mitfahren am Sonntag

Wenn Sie jetzt, in der dunklen Jahreszeit, am Sonntag morgen unterwegs sein sollten, mit Ihrem Kfz – obwohl es dafür ja eigentlich gar keinen Grund gibt – wenn Sie aber doch um acht, halb neun bei Nieselregen und Schneematsch durch die Stadt und ihre ländlichen Vororte mit Ihrem Kfz pflügen, dann achten Sie bitte ganz besonders auf die gekrümmten, halslosen Gestalten an einsamen Kreuzungen, vor Bretter-Kiosken der fünfziger Jahre oder, ganz häufig, vor verwaisten Bushaltestellen-Wartehäuschen, die noch den Fahrplan von 1983 anbieten. 

Es sind die tapferen Männer der unteren Fußball-Kreisklassen, die hier auf ihren verspäteten Abholer warten und rauchen. Sie stehen recht knapp am Wegesrand, also bitte Vorsicht, sie stellen sich nicht irgendwo „unter“, sondern ertragen den Matsch, den Regen, den Hohn der Welt in volkssturmfester Schicksalsergebenheit. 
Nein, sie stehen hier nicht, weil sie es wollen oder gar Spaß daran haben, sie stehen hier, weil es so seine Richtigkeit und Ordnung hat. Die Zigarette tragen sie „nach innen“, in der hohlen Hand, um die Glut vor der schlechten Welt da draußen zu schützen. Das Stirnband ist tief ins Gesicht gezogen, der Kragen der Trainingsjacke aufgestellt. Auf dem Rücken steht „Fleischerei Schiller“. 

Wie sich nun verhalten? Sehen Sie dazu kurz einen kleinen Knigge, unseren Schulungsfilm „Vorwärts Auswärtssieg“. Film ab! Aha, danke schön, hier vor dem Glascontainer sehen wir sogleich den Schorsch. Da kommt auch schon, etwa zehn Minuten vor Spielbeginn, ein Passat der vorletzten Serie blitzeschnelle, ganz laangsam um die Ecke gekrochen. Darin, zwischen allerhand Altpapier und Kinderspielzeug, drei schlafende Restalkoholisierte mit Restknofi, sehen Sie? Nun beginnt ein schönes Menuett um das Auto. Sporttasche nach vorne, nach hinten oder in den Kofferraum? 
Schorsch wankt etwas, schauen Sie, aber er entscheidet sich dafür, die Tasche einfach auf dem Schoß mitzunehmen. Die Zigarette wird weg geschnippst, die Sportasche jetzt beim Einstieg mit zwei Fingern der rechten Hand über der Schulter getragen, ganz lässig sieht das aus, und mit der nach innen gedrehten linken Hand der Gruß entboten. 

„Dieter, sei mir doch ersma gegrüßt“ – „Morgen, Schorsch“ – „Andi, alles klar?“ – „Schorsch!“ – „Michael, grüß Dich“ – „Schorsch!“. Der Passat setzt sich in Bewegung. Soweit der kleine Film, danke. Den Projektor bitte zurück an Herrn Pauske von der Landesmedienanstalt, „Wiedersehen macht Freude“, danke, Horst! 
So. Nun noch die Hintergrundinfos. Die tapferen Männer der unteren Kreisklassen spielen Sonntag morgens um neun auf dem Ascheplatz, damit die Erste Herren nachmittags auf den „Teppich“ kann, den A-Platz. Sonntag Nachmittag herrscht aber sowieso keine Gefahr mehr, die Sonne scheint und auf den Straßen finden wir nur vereinzelt einen bunten Renault Kangoo oder eine alte Hanns-Martin-Schleyer-S-Klasse, unterwegs zum „freien Spiel“ einer „Freizeittruppe“ oder „Thekenmannschaft“. 

Verabredet wird sich nicht über „Telefonkette“, sondern per E-Mail-Verteiler. Es wird überhaupt viel diskutiert. Aber jeder fährt alleine, in seinem eigenen Auto. 
Was soll das?

Gerald Fricke: Mitfahren am Sonntag, in: taz vom 7.12.2005 („Die Wahrheit“), S. 20.

 

Jetzt erst recht, „Petting statt Pershing“

Die langen Achtziger, irgendwann Mitte der Siebziger fingen sie an und endeten erst 1998, mit der Abwahl Helmut Kohls. Mein großes Thema, damals!

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Gerald Fricke, Frank Schäfer: Petting statt Pershing. Das Wörterbuch der Achtziger, Reclam Leipzig, 1998.

Unser Achtziger-Wörterbuch war schon ein bisschen böse, manchmal. Die „Goldenen Siebziger“ (Reclam 1997), mit Frank Schäfer und Rüdiger Wartusch, unser erstes Buch, fiel noch „liebevoller“ aus, so meinten viele Leser.

Die Achtziger aber waren Ende der Neunziger wohl noch zu frisch, als dass wir ihnen ein gnädig liebevolles Erinnerungsfeuilleton hätten angedeihen lassen können. Heute aber blättere ich durch die sarkastischen Einträge zu den ganzen großen und kleinen Apokalypsen vom Glykol im Wein, „le waldsterben“, dem VW Santana (den die Autobahnpolizei fahren musste) über die drei Fehlstarts Jücke Hingsens bis hin zu den Auswirkungen Tschernobyls auf die Hamburger Elbvororte doch wieder ganz gerne. Doch, ja!

Großes Thema, wie gesagt. Hier noch zwei Fußnoten: 

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Gerald Fricke: Blick zurück ohne Zorn – Die 80er; in: Rolling Stone, Heft 10/1998, S. 42-47.

Spritztour

Gerald Fricke: Spritztour in die 80er; in: Frankfurter Rundschau, 5.10.2002.

In den folgenden Jahren erschienen dann eine Vielzahl weitere „lustiger“ Achtziger-Bücher, aber da waren wir dann doch froh, das Thema schon längst „durch“ gehabt zu haben.