Historische Texte (64): Die „Fußnote“ von Frank Schäfer

Campus_worterbuch

Fußnote. Gilt gemeinhin als sichtbarster Ausweis wissenschaftlicher Akkuratesse. Anders als der formal freizügigere Essayist, vom schlampigen Journalisten hier mal ganz zu schweigen, ist der Akademiker gehalten, den genauen Fundort der von ihm zitierten Quelle nachzuweisen – und zwar in Form einer Anmerkung „am unteren Seitenrand oder im Anhang“.1 Anständigerweise dokumentiert er an diesem niederen Ort auch einschlägige Untersuchungen, auf denen seine eigenen Ausführungen ganz oder teilweise – nun – fußen.2 Außerdem finden sich dort unten Annotationen, Exkurse und Weiterungen, die den Textfluß gestört hätten, zur Abrundung und Ergänzung aber offenbar unverzichtbar sind.3 Nichts dagegen zu sagen, meinen Sie? Irrtum. Zahlreich – und so alt wie die Fußnote selbst – sind auch die Vorwürfe ihrer Verächter. Sie sei ein offensichtliches Symptom des unseligen teutschen Tiefsinns und sorge nur dafür, daß dieser sich weiter fort und fortzeuge.4 Sie sei nutzlos und bloßer Selbstzweck, diene vor allem der Eitelkeit des Wissenschaftlers, der im Textkeller seine Trophäen ausstellen könne,5 ohne daß er befürchten müsse, vor der lesenden Öffentlichkeit als eitler Geck dazustehen. Die Fußnote lenke vom Eigentlichen ab, oftmals stünden gerade die für das jeweilige Thema wesentlichen Informationen unter dem Strich.6 Und schlußendlich erleichtere ein labyrinthisch verzweigter Wurzeltext nicht gerade das Verstehen der wissenschaftlichen Abhandlung.7 Wie wir oben bzw. unten ausgeführt haben, sind alle diese Anwürfe gegenstandslos – oder können doch wenigstens die augenfälligen Vorzüge der Fußnote nicht überwiegen. Und die wurden beileibe nicht nur von Wissenschaftlern bemerkt – leider, muß man schon sagen. Denn immer auch haben selbsternannte „Humoristen“ sie für ihr albernes, unnützes Tun mißbraucht.

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1 Gero von Wilpert: [Artikel] Fußnote, in: Ders.: Sachwörterbuch der Literatur, Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 1979, S. 287.

2 Vgl. für das Folgende auch Gérard Genette: Paratexte, Campus Verlag, Frankfurt a. M./New York 1992. – Anthony Grafton: Die tragischen Ursprünge der deutschen Fußnote, Berlin Verlag, Berlin 1995. – Ludger Lütkehaus: Unfröhliche Wissenschaft. Die Lage der Geisteswissenschaften aus der Sicht der Fußnote, Basilisken-Presse, Marburg/Lahn 1994.

3 Kennen Sie eigentlich schon den Witz von den beiden Bauarbeitern, die sich im total überfüllten Bus treffen?! Während der eine vorn einsteigt, will der andere soeben den Bus durch den hinteren Ausgang verlassen. Schreit der eine: „Wo willsten hin?“ Der andere: „Kann ich jetzt nicht sagen, zu voll hier.“ – „Gib ma ‘n Stichwort!“ – „Fiiiickeeen!!!!!!“ – Ach, und wenn Sie noch ein schönes Buch zum Verschenken (oder auch Selberlesen) suchen, möchte ich Ihnen folgendes empfehlen: Gerald Fricke, Frank Schäfer, Rüdiger Wartusch: Die Goldenen Siebziger. Ein notwendiges Wörterbuch, Reclam Verlag, Leipzig 1997, 18,- Mark.

4 Dieser notorisch kolportierte Irrglaube läßt sich indessen sehr leicht auflösen. Er rührt wohl daher, daß sich die Fußnote unter dem eigentlichen Text befindet, mithin „tiefer“ steht.

5 Siehe hierzu auch Verff.: Wie nutze ich sinnvoll meinen Hobbykeller? Selbstverlag, Braunschweig 1995.

6 Bei einer zu vernachlässigenden Anzahl von Einzelfällen mag das zutreffen. Es gibt schließlich überall schwarze Schafe. Die akademische Masse freilich weiß sehr wohl zwischen Haupt- und Nebentext zu unterscheiden. Aber seien wir nicht ungerecht und stellen auch die positiven Eigenschaften und Möglichkeiten der Fußnote vor. Zunächst und vor allem sorgt sie für ein angenehmes Schreibklima, wenn man so will: für Geborgenheit und Nestwärme. Denn der Autor ist, Note sei Dank, nicht allein – seine Präzeptoren, Lieblingsschriftsteller und Gewährsmännern liegen ihm „zu Füßen“ und wehren im Verein die Unbilden dieser Welt von ihm ab.* Jeder Schreibende weiß zudem um die Vorteile einer funktionierenden Textkanalisation, die eine schnelle und unproblematische Entsorgung jener Wissensgülle ermöglicht, deren augiastischer Gestank ihm sonst den Atem rauben würde. Und in echten Gefahrensituationen kann er den Schauplatz dorthin verlegen, um erst einmal aus der Schußlinie der Öffentlichkeit zu sein.** Außerdem bietet die Fußnote reichlich Platz zum Basteln und Experimentieren: Alle groben Arbeiten, die in der guten Stube des Textes zuviel Staub aufwirbeln würden, lassen sich hier ohne Rücksichtnahmen erledigen, und man kann schon mal mit Säure kleckern, ohne gleich den teuren handgewirkten Teppich zu versauen. Einige kühne Verfechter der Fußnote billigen ihr sogar eine Art Rahmenfunktion zu, die den wissenschaftlichen Artikel erst ins rechte Licht rücke. Eine zumindest bedenkenswerte These. Wie Sie bemerkt haben, nähern wir uns langsam ihren ästhetischen Implikationen. Die Fußnote ist der doppelte Boden eines Textes, das Tor zu einer anderen Dimension. Hier tut sich eine Welt von absurder Schönheit auf – und man muß schon eine geraume Zeit dort verweilen, um ihre geheimnisvollen Zeichen zu verstehen.*** Diese evident poetische Dimension läßt sich auch kunsttheoretisch fundieren. Ganz im Sinne der romantischen Universalpoesie sorgt die Fußnote für Entgrenzung und öffnet den in seiner Materialität endlichen Text der Unendlichkeit. Sie verbindet das gegenwärtige Schreiben mit dem vergangenen, indem sie es noch einmal evoziert, und antizipiert auch schon zukünftiges. Denn dermaleinst wird jeder wissenschaftliche Text selbst wieder zur Fußnote.

7 Diese Miszelle sollte zeigen, daß davon nun gar keine Rede sein kann.

 
 


* Sehr beliebt in den frühen Siebzigern zum Beispiel: Vgl. Karl Marx, Friedrich Engels: Werke, Berlin (Ost) 1956 ff.

** Denken Sie etwa an eine sich anbahnende Kneipenschlägerei: Weil er der öffentlichen Schmach möglichst entgehen will, bittet der Unterlegene seinen Kontrahenten nach draußen, um sich dort gütlich mit ihm zu einigen – oder auf besonders schmähliche Weise zur Strecke zu bringen. (siehe: Bierstubenrauferei, innerpositivistische)

*** Cf. Anm. 2, ibid. passim (sub indice).

Aus: Gerald Fricke / Frank Schäfer: Das Campus-Wörterbuch. Der obligatorische Führer von Abitur bis Zwangsexmatrikulation. Braunschweiger Beiträge zur Dichotomie akademischen Seins. Band I: Grundfragen, Ausdruck und Kritik, 1
. unveränderte Aufl., Eichborn-Verlag, Frankfurt/M. 1998, S. 39-41.
 

Das war 1997: Sparpaket und „Blödelwelle“

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Beim Aufräumen der Festplatte entdeckt. Stimmt heute alles immer noch…

Gerald Fricke: Die Ästhetisierung der guten Politik: Siebziger Light. Oder: was hat die ‚Blödelwelle‘ mit dem Sparpaket zu tun? in: Ästhetik & Kommunikation, 97/1997, S. 50-55.