„Das nächste Web ist emphatisch“ – meine Vorlesung zur Webgesellschaft

Vorlesung Webgesellschaft

Gerald Fricke: Vorlesung zur kooperativen Webgesellschaft, TU Braunschweig, Institut für Wirtschaftsinformatik, Sommersemester 2014  

Wir erleben den Übergang von einer Gesellschaft, die auf die Masse setzt zu einer vernetzten Gesellschaft, in der das Web zum Leitmedium wird – wir bezeichnen das in der Vorlesung als “Große Transformation zur kooperativen Webgesellschaft”.

Das Web sehe ich als einen Assoziationsraum für Individuen, die durch ihr kommunikatives Handeln miteinander verbunden sind. Wie kooperativ nun dieses Handeln tatsächlich ist, hängt nicht unbedingt und in erster Linie davon ab, welche Medien oder Angebote wir nutzen, sondern welche Einstellungen und Sichtweisen wir haben und wie Macht und Einfluss in einer Gesellschaft verteilt sind.

Durch Empathie, Offenheit und Zusammenarbeit im sozialen Web unterstützen wir im besten Falle die “öffentliche Sache” (res publica) – dafür brauchen wir neue Konventionen, einen neuen Gesellschaftsvertrag: Wie werden wir im nächsten Web Beziehungen pflegen, Wissen teilen, Ideen verbreiten, zusammen arbeiten oder unser Mittagessensfoto „teilen“? Diese Geschichte der kooperativen Webgesellschaft müssen wir selbst erzählen.

Meine Vorlesung dazu gliedert sich in vier Teile:

1. Was heißt Webgesellschaft: Theorie und Gestaltung

Hier geht es uns um die Merkmale der Großen Transformation und der Kooperation: Den Medienwandel, den Wandel der Öffentlichkeit und die neuen Akteurskonstellationen. Wir fragen unter anderem nach dem Zusammenhang von Gesellschaftstheorie und den Medien, von Aktionsforschung und Actor-Network-Theory.

2. Unternehmen: Webgesellschaft als Innovationstreiber

Was bedeutet die Kooperation für Open Innovation, Social Media und die Arbeitswelt? Können Unternehmen zum Beispiel das „postmoderne Flanieren“ auf Instagram für ihre Marken oder Dienstleistungen nutzen – in Zusammenarbeit mit den Kunden und Nutzern?

3. Demokratie: Webgesellschaft gestalten

Wie gestalten wir den Strukturwandel der Öffentlichkeit, neue Kooperationen in der Umweltpolitik und unser kommunikatives Handeln im Web? Wie viel Offenheit, Transparenz und Mitsprache können und wollen sich Unternehmen erlauben und wie profitieren sie davon?

4. Geschäftsmodelle: Umsätze in der Webgesellschaft 

Welche neuen Märkte und Dienstleistungen entstehen für Unternehmen im Übergang zur Webgesellschaft? Dazu betrachten wir unter anderem die Mobilität der Zukunft, neue Wege für Literatur und Verlage, die Musikindustrie und die Remix Culture.

Zu ausgewählten Themen erstellen die Studenten Kurzvorträge als PechaKuchas, in denen eine bestimmte These begründet wird: 20 Folien á 20 Sekunden, insgesamt also 6:40 min. Damit wollen wir in der Vorlesung verschiedene Sichtweisen auf die Kooperation werfen, die Theorie des kommunikativen Handelns erweitern und und versuchen, diese mit der gestaltungsorientierten Wirtschaftsinformatik zu verbinden.

Warum PechaKucha in der Vorlesung? In diesem PechaKucha-Vortrag wurden zum Beispiel die Pro- und Contra-Argumente zur „flüssigen Demokratie“ präsentiert. Durch dieses Format werden die Studenten „gezwungen“ ihre Argumente genau zu strukturieren und gut zu präsentieren. Durch die Zuspitzung auf These und Anti-These können auch zurückhaltendere Teilnehmer im Plenum aktiviert werden, ihre Meinung zu vertreten. Didaktisch haben wir uns an etablierten Micro-Teaching-Ansätzen orientiert: Die Studenten erklären sich untereinander selber den Wandel zur Webgesellschaft – und erarbeiten sich damit auch einen wichtigen „Stoff“ der Vorlesung selber. Das gefällt mir immer besser…Weiter geht’s!

Gerald Fricke

"Dienstanweisung Internet", jetzt neu mit Kommentarfunktion!

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Kommentare, Ihre. Die Welt bleibt nicht stehen, natürlich, und so auch nicht das Internet. Die Wissenschaft hat daraus gelernt und vor einigen Jahren eine neue Form des Internet erfunden: das sog. Dschungelcamp 2.0. Hier zählt das Mitmachen! Auch mit unserer Dienstanweisung wollen wir uns diesem neuen Trend nicht verschließen, immerhin sind wir nicht „von gestern“!  Will sagen: Weil uns, dem Verlag und dem Autor, der Austausch mit Ihnen sehr wichtig ist, also quasi eine Herzensangelegenheit darstellt, haben wir auch eine praktische Kommentarfunktion zu jedem Artikel eingefügt.
Dazu gehen Sie bitte wie folgt vor: Erstellen Sie von dem zu kommentierenden Artikel eine einfache Schwarz-Weiß-Kopie. Diese Kopie bitte einscannen, ausdrucken, handschriftlich Ihre Stellungnahme ergänzen und die Seite versehen mit einigen Beschimpfungen des Verlegers „aufs Fax legen“ und an den Verlag schicken. Hier werden alle Stellungnahmen der Probanden zu Lachsschaum-Creme verarbeitet und mit den Kurieren des Kaisers dem Autor zugestellt. Durch ein auf den ersten Blick einfaches, aber dennoch hochmörderkomplexes alchimistisches Verfahren ist der Autor in der Lage, aus der Lachsschaum-Creme die Essenz Ihrer kritischen Privatmeinung zu den inkriminierten „Stellen“ des Buches heraus zu destillieren. Keiner hat gesagt, dass das Spaß macht, aber es muss ja nun einmal sein, in der heutigen Zeit!

(Quelle: Buch, gutes.)

Mein "Sieg in Rom", 1980

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Naja, ok, das war schon zur Europameisterschaft 2008. Nur das Wort „Querdenker“ bitte mit dickem Edding streichen, sonst passt alles, danke!

Aus: Braunschweiger Zeitung vom 5.6.2008

„Menschen und Mächte“, Helmut Schmidt und ohne Licht fahrende Chinesen. Pflichtlektüre!

Gesten Abend gab es ein heißes Thema auf der „Pl0gbar“ im Braunschweiger Internet: Das Phänomen der aufmerksamen Pöbel-Rentner, die einem „Lüüücht an!“ hinterherrufen, wenn man mit einem pfefferminzgrünen Damenfahrrad durch die elenden Fluchten unserer, nunja, doch eher kleineren Großstadt eiert. Zu Hause angekommen ergab es sich, dass ich, o goldene Koinzidenz, fasziniert am Ereignissender Phoenix hängenblieb. Und das hier sah:

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Helmut Schmidt: „Millionen Chinesen fuhren 1975 ohne Licht Fahrrad“, Phoenix, 16.06.2011, 23:54 Uhr.

Der große Weltökonom Helmut Schmidt erklärte, nun  eben, die Welt. In zwei, drei Sätzen ging es von der „gelben Gefahr“, dem Römischen Reich, Europa im Jahre 1500 zur Weltordnung im 21. Jahrhundert und wieder zurück. Und, o goldene Koinzidenz, as I already mentioned, Helmut Schmidt erzählte, dass die Chinesen 1975 in Bejing, oder Peking, wie wir ja „in Deutschland sagen“ alle ohne Licht Fahrrad gefahren sind, und zwar „millionenfach“. Jetzt war es soweit. Ich musste noch einmal zu meinem Lieblingsbuch greifen, zu „Menschen und Mächte“ von 1987. Pflichtlektüre! Ein Buch, das wir alle einmal gelesen haben müssen, um die Welt, in der wir leben, besser zu verstehen.

Warum? Nun, Helmut Schmidt wurde es nie „leichtgemacht“. Aber er rackerte sich hoch. Bis zum Offizier. Bis nach Russland. Wer Helmut Schmidt, den großen Lotsen des Tankers „Deutschland“ durch die stürmischen Weltenmeere der Krisensiebziger, wirklich kennenlernen will, der sieht auf dem Titelbild von „Menschen und Mächten“ zunächst einmal einen sehr ernsten, sehr nachdenklichen, sehr streng gescheitelten Schmidt in altgriechischer Nachdenker-Pose – beim, ach was, Nachdenken. Über die russische Seele, über Leonid Breschnew, die „Pracht des Kreml“, den „Zwiespalt mit China“, über Richard Nixon, Jimmy Carter, den Nato-Doppelbeschluss, die „Fernsehdemokratie“, Mao Tse Tung, die Bedeutung der Geburtenkontrolle und den Verräter Genscher.

Dieses Buch enthält „Erinnerungen und Bewertungen aus dem Umgang mit den drei überragenden Weltmächten Sowjetunion, USA und China.“ Leider nicht Deutschland, trotz Schmidt. Welch Paradox: der einzige Staatsmann von Format saß in den Siebziger nicht im Elysee-Palast, im Weißen Haus, im prächtigen Kreml, sondern – in Bonn. Keinesfalls handelt es sich bei „Menschen und Mächte“ um den „Versuch einer Autobiographie“, denn „politische Selbstbespiegelungen“ sind Helmut Schmidt „immer suspekt gewesen.“ Politische Selbstbespiegelungen sind noch schlimmer als die Grünen oder die Fernsehdemokratie! Nein, hier werden Fehler besonders freimütig zugegeben; so z. B. der Fehler, dass er, Schmidt, dem naiven Idealisten Jimmy Carter nicht viel unmissverständlicher seine Irrtümer ausgetrieben hat. Sonst hat Schmidt glücklicherweise alles immer schon früher und besser erkannt als sonst alle, siehe Nato-Doppelbeschluss.

Wie auch immer: Im „Urteil der Geschichte“ gibt’s eine Eins rauf mit Mappe und noch wesentlich besser sähe heute (bzw. 1987) die Welt aus, wenn alle anderen sich besser an Schmidts Ratschläge (ganz vorzüglich auch auf englisch) gehalten hätten. „Allerdings haben mich Erinnerungen von Politikern wie Künstlern häufig sehr interessiert, sie haben mich zum Denken, zur kritischen Überprüfung, zur Ergänzung oder Korrektur meiner bis dahin gewonnenen Urteile angeregt.“ In diese geistige Ahnengalerie sind sicherlich Sir Karl Popper, der Staatskünstler Henry Kissinger, möglicherweise auch Fernsehpapst Neill Postman und selbstredend Immanuel Kant zu stellen. Überhaupt: Schmidt weiß auch deswegen so viel, weil er sich „als Abgeordneter, Minister und als Bundeskanzler“ – ja selbst als Bratkartoffelesser, Hamburger Jung und Cordhosen-Träger – „immer gern dem Einfluss der Zeitungen“ aussetzt. „Jeden Tag habe ich bis zu anderthalb Stunden Zeitungsberichte und -kommentare gelesen, und nicht etwa nur die vom Presseamt angefertigten Kurzfassungen.“ Kurzfassungen – pah! „Auch habe ich Interviews mit inkompetenten Fragestellern“ also Interviews mit allen, die nicht Helmut Schmidt heißen, „oft genug für eine Zumutung gehalten.“

Weiter im Text. Der erste Teil heißt „Mit den Russen leben“. 1973 kommt es zu einem ersten Treffen mit Leonid Breschnew. Das war ein „Russe mit all jenen Eigenschaften, die wir gemeinhin den Russen zuschreiben: Kraft, Trinkfestigkeit, Gastfreundschaft, Sentimentalität, Herzlichkeit, Großzügigkeit – und zugleich Misstrauen gegen undurchschaubare Fremde, taktische Umsicht und berechnende Schläue, Machtbewusstsein, wenn nötig sogar Brutalität.“ Ja, haha, so ist er, der Russe! Trinkt auch „Wodka aus Wassergläsern“! Nachdem Schmidt schon 1941/42 „im Verbund der ersten Panzerdivision“ in Russland gewesen war, reiste er 1966, zusammen mit Loki, Tochter Susi und Mitarbeiter Wolfgang Schulz abermals nach Moskau und Leningrad. Mal kucken, was noch übrig war. Die Reise gestaltete sich, nach Schmidts eigenen Worten „interessant“. „Am Steuer meines Opel Rekord, ausgestattet mit teuren Intourist-Gutscheinen, war es von Nürnberg über Prag, Breslau, Warschau nach den beiden russischen Metropolen und zurück über Helsinki gegangen, insgesamt 5000 Kilometer.“ Ja, so war es gegangen. Frisch geduscht und super gelaunt zurück in Hamburg hat Schmidt dann die Ostpolitik erfunden. Noch vor Egon Bahr und Willy Brandt.
Einzig Herbert „Onkel“ Wehner verstand ansatzweise „unsere“, also Schmidts, Ostpolitik. Wehner nämlich „besaß ein hohes Einfühlungsvermögen für andere, besonders für Menschen in Not. Er soll einmal über Rußland gesagt haben, er liebe dieses Land, weil es soviel erleiden musste.“ Hier habe ich ein bisschen geweint, an genau dieser Stelle.

Allerdings: „Die Sowjets sind meisterhafte Schachspieler; sie sind Pokerspieler und neigen keineswegs dazu, alles auf eine Karte zu setzen.“ Prima Bild – das Wesen der Pokerei zeichnet sich ja gerade dadurch aus, dass niemals alles auf eine Karte gesetzt wird, niemals! Egal. Immerhin ist Schmidt ja auch für wirtschaftliche Beziehungen mit der Sowjetunion und dafür, dass der Russe wieder auf die Beine kommt, denn: „Ein satter Nachbar ist angenehmer als ein hungriger.“ Jimmy Carter dagegen fehlten z. B. „Kenntnisse der russischen Geschichte, Tradition und Mentalität“ (also Expansion, Wodka wie Wasser, Pokerspieler etc.). Außerdem wurde Schmidt sofort klar: „Carter hatte noch immer weder die Seele Frankreichs noch die Vorstellungswelt des französischen Präsidenten verstanden.“ Ohne Schmidt hätte es daher 1980 auch einen Krieg zwischen Frankreich und Amerika gegeben.

Total viel aus macht es Schmidt, wenn jemand vor der Front
Taschenbillard spielt, wie z. B. der kulturlose Ami Schlesinger, dem es „nichts ausmachte, eine Ehrenformation des Bonner Wachbataillons mit den Händen in der Tasche abzuschreiten. Meinem Freund Georg Leber, meinem Nachfolger auf der Hardthöhe, machte das sehr viel aus!“ Der Kulturverfall ist leider kaum aufzuhalten. Wenn sich Schmidt heute mit seinen Buddies trifft, mit Valéry Giscard d’Estaing und Jim Callaghan, und ab und zu „auf Jerry Fords Einladung in Vail in den Bergen Colorados“ pennt, „so kann sich abends beim Whisky das Gefühl von den aktuellen Problemen der Zeit ab- und nostalgisch der Mitte der siebziger Jahre zuwenden. Etwas wehmütig – und zugleich leicht überheblich – kann dann einer von uns sagen: ‚Natürlich war die Welt damals besser regiert als heute.‘“ So ist es. Nur das mit den Millionen Menschen, die ohne Licht in Peking Fahrrad fahren, das hätte Helmut Schmidt dem Mao Tse Tung wirklich besser erklären müssen, finde ich. 

Gerald Fricke