Europapokal 2013

Aufstieg und Europapokal-Entscheidungsspiel Eintracht Braunschweig gegen Energie Cottbus, Eintracht-Stadion, 6.5.2013

„Europapokal, Europapokaaal“, wir feiern unseren Aufstiegsgottesdienst an der Hamburger Straße. Allein das Wort schon: Europapokal, in den Siebzigern und Achtzigern haben wir immerhin noch regelmäßig im glorreichen Intertoto-Cup gegen obskure Ostblock-Vereine oder sogar Malmöö FF für ein geeintes Europa gekämpft! Sogar die Cottbusser Spieler spüren den Mantel der Geschichte, stehen beim Einlaufen der Eintracht-Helden Spalier und gratulieren nobel, wie Major Puskás dem Fritz Walter 1954. Werdet zur Legende, kämpfen bis zum Ende. Und jetzt alle: „Eurroppapokaaaal, Europaaaapokaaal“, danke schön für diese traumhafte Saison. Ab jetzt: Nur noch Sommerfußball am Weltwochenende.

Kein Ballgefühl: Gieriges Kleben am Zaun

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Warum wird man eigentlich Fußballfan? Mein Auslöser war seltsamerweise die völlig vergurkte WM 1978 in Argentinien. Erweitern wir die Frage: Warum wird man Fan von Eintracht Braunschweig? Nun, in dieses Dasein wird man wohl schlicht und einfach geworfen. Die Treue zu einem Verein bedeutet eben keine moralische Wahl wie Tapferkeit oder Freundlichkeit, sondern eher eine „Warze oder ein Buckel, etwas was Dir anhaftet“, wie es der große Nick Hornby („Fever Pitch“) ausdrückt. Bei mir war‘s mein erstes Spiel im Stadion, in meiner ersten Saison 1978/79. Mein Onkel hatte mich, als kleinster Pik-Bube, zum Saisonauftakt mitgenommen und ich klebte gierig am Zaun. Gegen, ausgerechnet, die „Geißböcke aus Köln“, wie es in der ARD-Moderatorenakademie wohl seit Jahrzehnten gelehrt wird. Eine rauschende Ballnacht mit einem akkuraten 1:0 von Danilo Popivoda folgte. Weniger schön, auch das muss natürlich erzählt werden, war dann das 0:8 im folgenden Abstiegsjahr in Köln. Kurz darauf wurde dann in hoher Not „Rakete“ Eggeling verpflichtet, aber die hat auch nicht mehr so richtig zünden wollen. Im Rückspiel konnten dann wieder Trimhold und Popivoda ein astreines 2:1 knipsen …

Eines der schönsten Spiele gegen Kölle – mit Pierre Littbarski und Toni Schumacher – aber war zweifelsohne das Saisonfinale 1982; an einem herrlichen Maientag gab‘s ein lässiges und völlig bedeutungsloses 4:4. Achtmal klingelingeling: 4:4! Die Namen der Eintracht-Torschützen, ich darf zitieren, wir erheben uns bitte von den Plätzen: Wolfgang Grobe, Ronnie Worm, Hans-Heinrich Pahl, Peter Geyer. Welch‘ Musik! Gar nicht schön dann wieder, typisch Eintracht, die Saison-Eröffnung 1984, 1:3 gegen Köln. Torschütze: Peter Lux. Nun ja …

Warum weiß man diesen ganzen Kram noch? Und was macht einen Fußballfan nun wirklich aus? Lassen wir besser nochmals Nick Hornby antworten: Ein Fußballfan ist besessen und exentrisch, fährt an einem „saukalten Januarnachmittag“ ganz allein hundert Kilometer zu einem Spiel der Reservemannschaft, obwohl er das Spiel hasst. Er denkt nicht, denn wer zuviel versteht, hört auf, Fan zu sein. Er hat ein lächerlich geniales Gedächtnis, was leicht zu Pedanterie führt: „Warum fühle ich mich gezwungen, wenn mir jemand erzählt, dass er 1976 einen 5:2-Sieg gegen Newcastle gesehen hat, zu bemerken, dass das Spiel 5:3 ausgegangen ist? Warum kann ich nicht höflich sagen: Ja, das war ein tolles Spiel?“ Kein Nicht-Fan kann das verstehen. Leider wird die Fußballbesessenheit von der Gesellschaft nur unzureichend akzeptiert, „Heimspiel gegen Sheffield United“ gilt bei Hochzeitseinladungen nicht als annehmbarer Absagegrund.

Überhaupt: Ein Fan amüsiert sich, indem er leidet. Besessenheit ist nicht lustig und Besessene lachen nicht. „Ich wollte beim Fußball einfach keinen Spaß haben. Ich hatte überall sonst Spaß, und es hing mir zum Hals raus. Ich war melancholisch, und wenn ich meinem Team zuschaute, konnte ich die Melancholie auspacken und ihr etwas Auslauf verschaffen.“

Aber Achtung: Bitte nicht heute!

Mein "Sieg in Rom", 1980

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Naja, ok, das war schon zur Europameisterschaft 2008. Nur das Wort „Querdenker“ bitte mit dickem Edding streichen, sonst passt alles, danke!

Aus: Braunschweiger Zeitung vom 5.6.2008

Akademikerfußball im Internet, quo vadis?

Akademiker sind bekanntlich zu doof, um sich im Internet zum Fußball zu verabreden. Aus ideologischen oder religiösen Gründen weigern sie sich zum Beispiel den Internet-Dienst Doodle zu kennen oder anzuwenden. Sie machen es einfach nicht, das Doodlen, weil sie lieber „Telefonkette“ machen. Alle Doodle-Verweigerungstelefonketten, die an einem einzigen Sonntagnachmittag in der Bundesrepublik Deutschland, nunja, „geknüpft“ werden, ergeben zusammengenommen eine intergalaktische Superkette, die sich 17 mal um den Erdball windet und winselt. Das muss man sich einmal vorstellen! Dabei sind Akademiker doch immer gut im logischen Denken oder im Rechnen, eigentlich! Wenn man zum Beispiel sagt: „Freunde, das Doodlen ist doch im Grunde genommen eine ganz einfache Sache“, dann nicken alle Akademiker und ziehen genüsslich an ihren Pfeifen und stellen ihre Blinklichter auf tremolierenden „Bescheidwisseralaaarm“. Aber egal, Hauptsache gewonnen und „nicht abgegeben“!

Warum rebelliert die deutsche Jugend? Experten im Gespräch, 1967

Kleine Vorrede: Wenn ich die neuen „bürgerlichen“ Piratenfans wie Frank Schirrmacher (FAZ), Peter Altmaier (CDU) etc. lese, die in ihrer gut abgehangenen Saulus-Paulus-Transformation dem Internet durchaus, ja doch, und immerhin eine nicht unwichtige Rolle im gesellschaftlichen und politischen Wandel zusprechen (auch wenn wir aufpassen müssen, dass unsere Kinder weiterhin Gedichte auswendig lernen!), dann denke ich mir, hey, so ähnlich hätte Adorno auch 1967 über Jimi Hendrix geschrieben, nur eben total anders. Ihr vesteht was ich meine, ja? 

Vor zehn Jahren, zu Hendrix‘ Sechzigsten, hat Frank Schäfer ein schönes „Tribut to Jimi Hendrix“ bei Schwartzkopf & Schwartkopf herausgegeben. Und ich habe darin kein Wort über Musik gesagt, aber mir allerhand Gedanken darüber gemacht, was die deutsche Geistes-, Politik- und Kulturelite wohl in einer „Gesprächsrunde“ im ZDF-Nachtprogramm zum „Sommer der Liebe“ 1967 und der aufkommenden Protest- und Gegenkultur gesagt hätte, am Vorabend von „’68“, schön Rotwein-halbbesoffen in schwarzweiß, von Pfeifendampf umnebelt, unter der „besonnenen“ Leitung von Günter Gaus.

So, und jetzt die Hausaufgabe: Bitte für „Rockmusik“ immer „Internet“ einsetzen und das Personal aktualisieren, bis auf Günter Grass, der bleibt einfach genau so drin, ok! Merci bien.

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Gerald Fricke: Warum rebelliert die deutsche Jugend? Experten im Gespräch; in: Frank Schäfer (Hg.): A Tribute to Jimi Hendrix, Berlin 2002, S. 45-51. 

Warum rebelliert die deutsche Jugend? Experten im Gespräch / Von Gerald Fricke

Die Sechziger sind schon ein komisches Jahrzehnt, auch und gerade in Westdeutschland. Im Anschluß an den „Sommer der Liebe“ vollzog sich, im Dezember 1967, ein beachtenswertes Stück Fernsehgeschichte. Der große Frankfurter Philosoph und Musikkritiker Theodor Wiesengrund Adorno, Prof. Karl Schiller, Minister und Aushängeschild der Großen Koalition und spätere Superminister unter Willy Brandt (für Wirtschaft und Finanzen), der Politikwissenschaftler Prof. Kurt Sontheimer, der Soziologe Ralf Dahrendorf, der Psychoanalyst Prof. Alexander Mitscherlich, der Schriftsteller, Bildhauer und spätere Literaturnobelpreisträger Günter Grass und, last but not least, Rudi Dutschke, aufstrebender Bürgerschreck, diskutierten zu später Stunde im ZDF über „Jugend und Rebellion im technischen Staat“. Im Rahmen der Sendung „Zur Person“. Eine Sendereihe ohne „Geschwätz“, in der es nur auf das „wirkliche, auf das Wesentliche gebrachte Gespräch“ ankommt, wie die Frankfurter Rundschau anerkennend in der damaligen Zeit schrieb.
Die Gesprächsleitung lag wie immer bei Günter Gaus. „Gaus versteht es“, wir zitieren immer noch die FR, „geschickt, zuweilen auch hartnäckig und bohrend zu fragen, ohne jemals taktlos zu werden. Die Zunge immer spitz, aber nie im Giftfaß.“ Als musikalischer Sachverständiger der Sendung war Bill Ramzey geladen, der den „Jazz nach Hause“ geholt habe, wie Günter Gaus schmunzelnd erläuterte. Leider sollte dieses einzigartige, schwarz-weiße Dokument deutscher Geschichte aufgrund musikalischer Differenzen nie geendet werden. Uns liegt aber eine Abschrift vor.

Die Diskussion drehte sich um Fragen der Rebellion im Inneren und Äußeren. Wir überspringen die ersten zwanzig, dreißig Minuten. In dieser „Warm Up“-Phase versuchten einige Komödianten, heute würde man „Animateure“ sagen, die Diskutanten und das Publikum „aufzuheizen“. Insbesondere von Prof. Adorno wurden diese Versuche als „albern“ und „unangemessen“ zurückgewiesen. In der Aufzeichnung ist zu erkennen, wie Adorno das Gesicht verzieht, zugleich aber Prof. Sontheimer und Günter Grass bei der Mary-Roos-Parodie durchaus fröhlich mitschnippsen. Dann geht es endlich zur Sache. Günter Gaus braucht nur ein Stichwort zu sagen, und schon sticht der Hafer. Aber hören wir selber: Günter Gaus sagt: „Ich brauche wohl nur ein Stichwort zu sagen, Herr Prof. Mitscherlich. Hitler!“.

Prof. Mitscherlich springt natürlich gleich darauf an und führt aus, dass die deutschen Jugendlichen nie einen Hitler erlebt hätten und deshalb trauerten. Unverarbeitete Trauer aber schlage in Wut und Rebellion um. Diese beziehe sich auch auf den „technischen Staat“. Die Unwirtlichkeit unserer Städte trage ein Übriges dazu bei. Prof. Schiller kontert geschickt, „Technik hin oder her“, klar sei, dass jeder Deutsche innerhalb von dreißig Minuten die Autobahn erreichen müsse. Müsse! Ovationen im Publikum. Eins zu Null für die SPD. Nun wendet sich Günter Gaus an Theodor Adorno.

„Herr Prof. Adorno. Rock-Musik als Größe der politischen Sozialisation. Was ist Ihre Meinung dazu?“. Adorno kaut an der Pfeife. Er scheint immer noch empört über die unangemessene Mary-Roos-Parodie zu sein. Da springt ihm Ralf Dahrendorf in die Parade: „Rock-Musik entspringt dem westlichen Modernisierungsschub. Die Nachkriegsjugend sehnt sich nach neuen Lebenskonzepten. Die politische kontrollierte Wirtschaft bietet diese Alternativen in politisch kontrollierter Form an …“ – „Sie meinen“, hakt Gaus nach, „die, sagen wir, Rock-Kultur, ist nicht authentisch, sondern ‚gemacht‘. Da spielen also Kapitalverwertungsinteressen mit hinein?“ – „Ja, das ist alles ein großes Geschäft geworden. Am Anfang waren die Trommeln Afrikas. Dann kam der Jazz. Betrachten Sie nur den Siegeszug des Jazz einmal genauer. Der verlief parallel zu dem des Automobils. Es waren die Fabriken Henry Fords, die ab 1908 das Fahrzeug mit Verbrennungsmotor zur Massenware machten – Fabriken mit Fließband und tayloristischen Methoden. Da wurde ein ganz neues Niveau in der ,Rationalisierung‘, in der Abstraktheit und Messbarkeit von Arbeit erreicht, das bald auf die Produktion anderer Konsumgüter übergriff. Auch die Schallplatte entwickelte sich zur industriell gefertigten Massenware.“

Nun ist auch Adorno hellwach: „Jazzmusik? Negermusik! Der Jazz ist Ware im strikten Sinn. Der Jazz charakterisiert eine Subjektivität, die gegen eine Kollektivmacht aufbegehrt, die sie doch selber ,ist‘; darum erscheint ihr Aufbegehren lächerlich und wird von der Trommel Afrikas niedergeschlagen wie die Synkope von der Zählzeit. Das ,Zerfetzen der Zeit‘ durch die Synkope ist ambivalent. Es ist zugleich Ausdruck der opponierenden Scheinsubjektivität, die gegen das Maß der Zeit aufbegehrt, und der von der objektiven Instanz vorgezeichneten Regression.“ – „Jaja, blabla, das ist doch alles herrschaftsverschleiernd. Wir sprechen hier über Kapitalismus und Faschismus. Die NPD marschiert in die Landtage. Das ist der Kapitalismus heute. Wir sprechen hier über amerikanische Musik und zur gleichen Zeit führen die USA einen Vernichtungskrieg gegen das vietnamesische Volk. Mich interessiert nicht die Musik, mich interessieren diese Zusammenhänge.“ – „Herr Dutschke, Sie sprechen davon, den Kampf um die Befreiung, wie Sie, die Studenten und Ihre Genossen es nennen, in die westlichen Metropolen zu tragen. Nun haben wir aber erlebt, dass in den USA, in San Fransisco die jungen Menschen nicht kämpfen wollen, sondern mit Blumen in den Haaren …“ – „Herr Gaus, e
ntschuldigen Sie, ich lach‘ mich tot.“

Prof. Schiller versucht zu mediatisieren: „Blumen sind doch etwas Schönes, Herr Dutschke, nicht wahr. Wenn Sie mich fragen, ich liebe nicht Deutschland, sondern meine Frau, wie ja auch der spätere Bundespräsident Gustav Heinemann sagen wird, nicht wahr, und dazu gehören für mich Blumen.“ Prof. Sontheimer ist nun herausgefordert. „Nun, geehrter Herr Kollege Schiller, wenn Sie hier öffentlich über die Möglichkeiten einer sozialliberalen Regierungskoalition nach 1969 spekulieren …“ Prof. Dahrendorf bleibt am Ball: „Sie sprechen über Reformpolitik. Nun, einige junge Leute entziehen sich dem neuen, soliden Wohlstand. Aussteiger. Die Springer-Presse nennt sie Gammler. Lassen Sie mich aber noch kurz einen Gedanken zur populären Musik nachtragen. Die Rock-Musik ist jenes im republikanischen Amerika der 50er Jahre kreierte Medium, das die weißen Jugendlichen von der Zuwendung zu den schwarzen Radios, der schwarzen Musik und damit einer Gegen-Kultur heimholen sollte. Die doppelte kulturelle Sozialisation gebar aus dem schwarzen Blues und der weißen Country-Music …“ – „…den Mulatten Rock n´Roll!“, enragiert sich Adorno.

Bill Ramzey zuckt: „Ick weiß nich, ick weiß nich. Ok, ick bin Pausenclown aus USA. Sackt man so? Onkel Pausenclown aus Amerricka. Ok, ick akzeptiere. Aber was ist mit Elvis Presley? Kein Pausenclown? Kein Retorte? Nickt Körper gewordene Ikone der pubertären Haltung: Stimme, Hair, Styling, Bewegung. Ist das nickt Retorte?“. Rudi Dutschke greift den Gedanken auf: „Fetter Elvis, Sackgesicht, natürlich. Das staatskapitalistische Ziel bei Elvis bestand darin, ihn einzugliedern in das System, bis hin zum Eintritt der Leitfigur in die Armee, der ‚King‘ affimierte so die kapitalistische Kultur. Da muss ich Bill Ramzey Reckt, äh Recht geben.“

Alexander Mitscherlich lässt nicht locker: „Sexualität als Medium der pubertären Ich-Findung war der Motor der Zuwendung, Sexualität war das Mittel der Kontrolle, der Körper ist das Zentrum der Rock-Kultur: nicht die christliche Züchtigung, wohl aber Kastration ohne, äh jetzt hab ich mich …“ Günter Gaus unterbricht: „Lassen wir doch bitte die Kirche im Dorf, Herr Mitscherlich, bzw. das Genitale im Schoß, haha, kommen wir zurück auf die Politik.“ Günter Grass platzt der Geduldsfaden. „Benno Ohnesorg musste sterben, in diesem vermeintlichen Sex-Sommer, damit ein orientalischer Despot in Berlin ungestört seinen Faschismus feiern kann. Und wir sitzen hier wie die Gruppe 47. Ich bin empört über den Verlauf der Auseinandersetzung. Die Notstandsgesetze würde ich niemals durchgehen lassen. Die Espede sollte sich gut überlegen, ob sie wirklich weiter die Regierung eines NSDAP-Mannes stützen soll. Ich beobachte mit großem Interesse das Aufkommen der sogenannten Außerparlamentarischen Oppositionen …“ – Dutschke grunzt: „Ha! Aha!“ – “.. warne aber zugleich davor…“

Prof. Schiller unterbricht: „Nana, Herr Grass. Wir schaffen hier einen modernen Staat, das wissen Sie. Wir brauchen keine amerikanische Rock-Musik, Herr Gaus, Herr Adorno, aber wir können sehr viel von den westlichen Industriestaaten übernehmen. Wir brauchen eine keynesianisch inspirierte Globalsteuerung der Finanzpolitik. Im Rahmen einer konzertierten Aktion. Die Sozialdemokratie in Deutschland ist keine marxistische Glaubensgemeinschaft mehr, nicht wahr, sondern die Kraft für das magische Viereck“ – Prof. Sontheimer wirft ein: „Ad eins: Wirtschaftswachstum, ad zwei Vollbeschäftigung, drittens Geldwertstabilität, viertens außenwirtschaftliches Gleichgewicht.“ „Sehr richtig“, bescheidet Schiller dem vorwitzigen Kollegen, „und ich sage immer: Soviel Markt wie möglich, soviel Staat wie nötig. Von den jungen Leuten höre ich immer: Konzeptalbum. Sgt. Pepper. Progressive Rock. Was soll das?“ – „Ja, auck in der Musik, Improvisation ja, aber konstruktiv muss sie sein!“ wirft Bill Ramzey ein. „Was Sie wollen ist Marschmusik total!“, ereifert sich Dutschke gegen den braven SPD-Professor Sontheimer, der doch gar nichts gesagt hat, „das totale Platzkonzert des Faschismus. Direkt in den Vernichtungskrieg!“ Prof. Sontheimer läuft rot an und verläßt wutschnaubend die Bühne.

„Meine Herren, ‚Rebelllion der Jugend im technischen Staat‘ lautet das Thema unserer heutigen Diskussion. Wir haben jetzt viel gelernt über Rebellion und Jugend, aber leider nur wenig über den technischen Staat.“ Prof. Schiller wird von der Kamera beim Augenverdrehen ertappt. „Ja, 1967 war ein außergewöhnliches Jahr. Bleiben wir bei der Musik. In diesem Jahr gab es ja auch das fantastische Festival in Monterey, mit einem neuen amerikanischen Künstler, Jimi Hendrix, der uns alle … Herr Ramzey, bitte.“

„Ja“, übernimmt Bill das Wort, „Jimi Hendrix begann seine Laufbahn in den fünfziger Jahren als Begleitmusiker für Gruppen wie die Isley Brothers. Aber in den USA fand er kein Publikum für seine Gitarrenspiel und ging daher nach England, wo er sein Sex-Image geradezu zur Karikatur steigerte und einen kommerziellen Gitarren-Stil entwickelte.“ – „Vielen Dank, Herr Ramzey. In Mr. Hendrix, ja, da haben wir den Blues, den Jazz, den Beat, das Indianergeheul, die Gitarre und die Trommel Afrikas. Herr Adorno, Herr Mitscherlich, jetzt zufrieden!“, triumphiert Günter Gaus. So erregt hat man ihn noch nie erlebt.

Alexander Mitscherlich aber lässt sich nicht irritieren. „Sie spielen auf die große Blues-Kontroverse an, Herr Gaus. Sie sagen Hendrix, ich sage ok, aber ich sage noch einen Namen: Eric Clapton, die große weiße Hoffnung.“

Nun bricht sich eine lange angestaute große Empörung Bahn. Tumulte und körperliche Auseinandersetzungen lassen das Studio wackeln. Die Sendung muss schließlich abgebrochen werden und ist bis heute im ZDF-„Giftschrank“ eingemauert. Schade eigentlich.

„Verschwörer in kurzen Hosen“, hell ya!

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Gerald Fricke: Verschwörer in kurzen Hosen, in: taz („Die Wahrheit“) vom 26.8.2006, S. 20.

Die „Wahrheit“ ist die einzige täglich erscheinende Satire- und Autorenseite einer Tageszeitung, und das ist gut so. Besonders gut daran gefällt mir, dass die „Wahrheit“ außerdem die einzige Seite ist, die sich den Luxus leistet, nicht nur Revolutionsführer, Industriekapitäne oder Staatslenker, sondern auch und besonders gerne ihre eigenen Stammleser und militanten Abokündigungsdroher täglich zu verstören.      

20 Jahre taz-Wahrheit und seit elf Jahren habe ich von unregelmäßig bis ungefragt ausgekochte Politschnurren und gepfefferte Hochleistungs-Kolumnen unter anderem über Rudolf Scharping, Juniortexter, Art-Direktorinnen, Guido Westerwelle, Mao Tse Tung, Eintracht Braunschweig, Profilbilder im Internet, Hallenfußball, Günter Grass, Hotte „Horst“ Köhler, Helmut Schmidt, Fahrradmonteure, Lehrer, Hauswarte, Goldkettchen, meine Putzfrau in Hamburg, die DFB-Pokalauslosung, Ernst Hubertys Scheitel, Bikinizonen und atmungsaktive Schuhe beitragen dürfen. Was für eine Erfolgsstory! Glückwunsch an mich, danke!