Kein Ballgefühl: Gieriges Kleben am Zaun

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Warum wird man eigentlich Fußballfan? Mein Auslöser war seltsamerweise die völlig vergurkte WM 1978 in Argentinien. Erweitern wir die Frage: Warum wird man Fan von Eintracht Braunschweig? Nun, in dieses Dasein wird man wohl schlicht und einfach geworfen. Die Treue zu einem Verein bedeutet eben keine moralische Wahl wie Tapferkeit oder Freundlichkeit, sondern eher eine „Warze oder ein Buckel, etwas was Dir anhaftet“, wie es der große Nick Hornby („Fever Pitch“) ausdrückt. Bei mir war‘s mein erstes Spiel im Stadion, in meiner ersten Saison 1978/79. Mein Onkel hatte mich, als kleinster Pik-Bube, zum Saisonauftakt mitgenommen und ich klebte gierig am Zaun. Gegen, ausgerechnet, die „Geißböcke aus Köln“, wie es in der ARD-Moderatorenakademie wohl seit Jahrzehnten gelehrt wird. Eine rauschende Ballnacht mit einem akkuraten 1:0 von Danilo Popivoda folgte. Weniger schön, auch das muss natürlich erzählt werden, war dann das 0:8 im folgenden Abstiegsjahr in Köln. Kurz darauf wurde dann in hoher Not „Rakete“ Eggeling verpflichtet, aber die hat auch nicht mehr so richtig zünden wollen. Im Rückspiel konnten dann wieder Trimhold und Popivoda ein astreines 2:1 knipsen …

Eines der schönsten Spiele gegen Kölle – mit Pierre Littbarski und Toni Schumacher – aber war zweifelsohne das Saisonfinale 1982; an einem herrlichen Maientag gab‘s ein lässiges und völlig bedeutungsloses 4:4. Achtmal klingelingeling: 4:4! Die Namen der Eintracht-Torschützen, ich darf zitieren, wir erheben uns bitte von den Plätzen: Wolfgang Grobe, Ronnie Worm, Hans-Heinrich Pahl, Peter Geyer. Welch‘ Musik! Gar nicht schön dann wieder, typisch Eintracht, die Saison-Eröffnung 1984, 1:3 gegen Köln. Torschütze: Peter Lux. Nun ja …

Warum weiß man diesen ganzen Kram noch? Und was macht einen Fußballfan nun wirklich aus? Lassen wir besser nochmals Nick Hornby antworten: Ein Fußballfan ist besessen und exentrisch, fährt an einem „saukalten Januarnachmittag“ ganz allein hundert Kilometer zu einem Spiel der Reservemannschaft, obwohl er das Spiel hasst. Er denkt nicht, denn wer zuviel versteht, hört auf, Fan zu sein. Er hat ein lächerlich geniales Gedächtnis, was leicht zu Pedanterie führt: „Warum fühle ich mich gezwungen, wenn mir jemand erzählt, dass er 1976 einen 5:2-Sieg gegen Newcastle gesehen hat, zu bemerken, dass das Spiel 5:3 ausgegangen ist? Warum kann ich nicht höflich sagen: Ja, das war ein tolles Spiel?“ Kein Nicht-Fan kann das verstehen. Leider wird die Fußballbesessenheit von der Gesellschaft nur unzureichend akzeptiert, „Heimspiel gegen Sheffield United“ gilt bei Hochzeitseinladungen nicht als annehmbarer Absagegrund.

Überhaupt: Ein Fan amüsiert sich, indem er leidet. Besessenheit ist nicht lustig und Besessene lachen nicht. „Ich wollte beim Fußball einfach keinen Spaß haben. Ich hatte überall sonst Spaß, und es hing mir zum Hals raus. Ich war melancholisch, und wenn ich meinem Team zuschaute, konnte ich die Melancholie auspacken und ihr etwas Auslauf verschaffen.“

Aber Achtung: Bitte nicht heute!

Mein Discohemd, Herr @Vergraemer, Sir @Wortmax und ich!

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Liveleseshow mit Jan-Uwe Fitz, Holger Reichard und Gerald Fricke, Café Riptide, Braunschweig, 26.05.2011. Danke an Michael Völkel fürs Foto!

Ernst Hubertys Scheitel

Der Held meiner Jugend: Ernst Huberty. Hier mein literarisches Denkmal seines Sportschau-Scheitels, vorgetragen im März 2009 im Café Riptide Braunschweig. Die Kolumne ist vor vielen Monden in der taz erschienen, und wurde letztes Jahr auch noch mal in Michael Ringels „Sternstunden der Wahrheit“ (Oktober Verlag) hübsch weggedruckt.

„Städte sind Gespräche“

Im November 2009 war ich in Bremerhaven, bei der Herbsttagung der Bundesvereinigung City- und Stadtmarketing Deutschland (bcsd) zu Gast („Virtuell, viral, wirkungsvoll – Neue Medien und Methoden im Stadtmarketing online und offline“) – und habe den einführenden Vortrag „Städte sind Gespräche“ gehalten… Hier einige Impressionen davon.

Zunächst habe ich nach den handlungs-, systemtheoretischen und konstruktivistischen Begründungen der Stadt als Kollektivakteur, als Sinnstifter und Lebensort gefragt. Das Bild einer Stadt formt sich durch unsere Gespräche, gleichzeitig dient „die Stadt“ als Projektionsfläche für viele Wünsche, Hoffnungen oder Ängste – und das hat sie mit „dem Internet“ durchaus gemein.

Der erste urkundlich erwähnte „Flashmob“ in Bremerhaven hat sich zum Beispiel 1958 ereignet, bei der Ankunft von GI Elvis Presley in Deutschland. Darüber sprechen wir noch heute. Weiter ging es in der Präsentation über Eintracht Braunschweig 1967 (die Meisterschaft!), den Retro-Futurismus (mit atomgetriebenen Autos auf achtspurigen Stadtautobahnen), die Slow City Überlingen, die Idee der autofreien Innenstadt, verwirklicht ausgerechnet und höchstdialektisch in der Wolfsburger Autostadt, über die Stadt als unschöne „Dauerwerbesendung“ und das Werbeverbot in Sao Paulo bis zur Rückbesinnung auf den „idealen“ Markt im Mittelalter.

Und das Web 2.0? Prägt das Bild der Stadt, mehr als jedes Stadtmarketing, so die These. Gespräche stiften Gemeinschaft und konstituieren das Bild der Stadt – zum Beispiel als einen Ort, der den „Rückkanal“ und neue demokratische Angebote für seine Bürger bereit hält, so mein normativer Ausblick. Benjamin Barber beschrieb schon früh die Vision einer idealen interaktiven Demokratie im globalen elektronischen Dorf. Die neuen Technologien sollten für den Übergang von der „schwachen“ zur „starken“ Demokratie, von der Vertretungs- zur Mitwirkungsdemokratie, genutzt werden; damit solle sich wieder dem klassischen Ideal direkter demokratischer Selbstregierung in überschaubaren Stadtstaaten angenähert werden, das im 20. Jahrhundert unmöglich geworden und dem Repräsentationsmodell gewichen ist.