„Verschwörer in kurzen Hosen“, hell ya!

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Gerald Fricke: Verschwörer in kurzen Hosen, in: taz („Die Wahrheit“) vom 26.8.2006, S. 20.

Die „Wahrheit“ ist die einzige täglich erscheinende Satire- und Autorenseite einer Tageszeitung, und das ist gut so. Besonders gut daran gefällt mir, dass die „Wahrheit“ außerdem die einzige Seite ist, die sich den Luxus leistet, nicht nur Revolutionsführer, Industriekapitäne oder Staatslenker, sondern auch und besonders gerne ihre eigenen Stammleser und militanten Abokündigungsdroher täglich zu verstören.      

20 Jahre taz-Wahrheit und seit elf Jahren habe ich von unregelmäßig bis ungefragt ausgekochte Politschnurren und gepfefferte Hochleistungs-Kolumnen unter anderem über Rudolf Scharping, Juniortexter, Art-Direktorinnen, Guido Westerwelle, Mao Tse Tung, Eintracht Braunschweig, Profilbilder im Internet, Hallenfußball, Günter Grass, Hotte „Horst“ Köhler, Helmut Schmidt, Fahrradmonteure, Lehrer, Hauswarte, Goldkettchen, meine Putzfrau in Hamburg, die DFB-Pokalauslosung, Ernst Hubertys Scheitel, Bikinizonen und atmungsaktive Schuhe beitragen dürfen. Was für eine Erfolgsstory! Glückwunsch an mich, danke!  

Jetzt erst recht, „Petting statt Pershing“

Die langen Achtziger, irgendwann Mitte der Siebziger fingen sie an und endeten erst 1998, mit der Abwahl Helmut Kohls. Mein großes Thema, damals!

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Gerald Fricke, Frank Schäfer: Petting statt Pershing. Das Wörterbuch der Achtziger, Reclam Leipzig, 1998.

Unser Achtziger-Wörterbuch war schon ein bisschen böse, manchmal. Die „Goldenen Siebziger“ (Reclam 1997), mit Frank Schäfer und Rüdiger Wartusch, unser erstes Buch, fiel noch „liebevoller“ aus, so meinten viele Leser.

Die Achtziger aber waren Ende der Neunziger wohl noch zu frisch, als dass wir ihnen ein gnädig liebevolles Erinnerungsfeuilleton hätten angedeihen lassen können. Heute aber blättere ich durch die sarkastischen Einträge zu den ganzen großen und kleinen Apokalypsen vom Glykol im Wein, „le waldsterben“, dem VW Santana (den die Autobahnpolizei fahren musste) über die drei Fehlstarts Jücke Hingsens bis hin zu den Auswirkungen Tschernobyls auf die Hamburger Elbvororte doch wieder ganz gerne. Doch, ja!

Großes Thema, wie gesagt. Hier noch zwei Fußnoten: 

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Gerald Fricke: Blick zurück ohne Zorn – Die 80er; in: Rolling Stone, Heft 10/1998, S. 42-47.

Spritztour

Gerald Fricke: Spritztour in die 80er; in: Frankfurter Rundschau, 5.10.2002.

In den folgenden Jahren erschienen dann eine Vielzahl weitere „lustiger“ Achtziger-Bücher, aber da waren wir dann doch froh, das Thema schon längst „durch“ gehabt zu haben.

 

Warum schreibt der „RegSprecher“ wie ein 12jähriger mit Fausthandschuhen, der auf den Bus wartet?

Am 28. Februar diesen Jahres meldete sich eine neue Stimme auf Twitter zu Wort:

Seibert

Der „RegSprecher“. Was für ein grandioser Einstand!

Herr Seibert, hoppla, aus dramatischen Gründen wechsele ich in die direkte Anrede, wie kann man denn in einem einzigen Satz als erwachsener Mann, als Mann des Wortes und erfahrener Journalist, ein halbes Dutzend Rechtschreibfehler, Anredefehler, Sprachwurstigkeiten und Nullwörter produzieren? „Informationen“, natürlich „aktuelle“, „ab heute“, und zwar: „per Twitter“, ach so!

Herr Seibert, sind Sie 12 Jahre alt? Schreiben Sie in einem Bushaltestellenwartehäuschen mit Fausthandschuhen auf einem Wählscheibentelefon? Aber mal etwas grundsätzlicher gefragt: Würden Sie diesen Tweet drucken lassen? Natürlich nicht. Aber bei Gedrucktem, dem Altpapier von morgen, würde es Ihnen, Herr Seibert, sicher niemals passieren, Ihren eigenen Namen falsch zu schreiben.

Aber gut, egal. Der @RegSprecher machte seinem unglücklichen Twitter-Namen alle Ehre: Er sprach. Er hörte nicht zu, er führte keine Gespräche. Ok, das ist ja auch nicht die Aufgabe eines Regierungssprechers. Ein Sprecher erläutert den Journalisten in Pressekonferenzen die Positionen der Bundesregierung. Aber Twitter ist keine Bundespressekonferenz, hier warten keine Journalisten auf Erklärungen, sondern hier versammeln sich Menschen, die zum Beispiel die Positionen der Bundesregierung spöttisch kommentieren. Ob Herr Seibert auch eine private Meinung zu den Positionen der Bundesregierung hat? Sicherlich hat er die. Er könnte als „Steffen Seibert“ die Politik kommentieren, ohne seine professionelle Grundloyalität als Sprecher der Regierung aufzugeben. Doch, das ist möglich! Der nette Herr @Frischkopp zum Beispiel darf als Google-Sprecher auch über seine private Facebook-Nutzung erzählen, es wird Google Deutschland nicht schaden. Tipp Nummer eins.

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In seinem vierten Tweet, am 1. März, zog der @regsprecher ein erstes Zwischenfazit und brachte damit sein Programm und seine systematische Groß- und Kleinschreibschwäche auf den Punkt: „Dialog ist zeitfrage“.

Seibert_dialog

Aha, Dialog „ist“ nicht inspirierend, beglückend, erwünscht oder verboten, sondern „zeitfrage“. Nein, Herr Seibert, jetzt muss ich Sie wieder direkt andialogisieren, Twitter „ist“ eine hervorragende Möglichkeit, mit den Adressaten der Regierungspolitik direkt und unmittelbar ins Gespräch zu kommen, wenn Sie mögen. 

Es „ist“ doch so: Twitter gibt es schon seit einigen Jahren. Sogar ohne den Sprecher der deutschen Bundesregierung. Nun kommen Sie dazu, wunderbar, herzlich willkommen. Aber wenn man bei einer laufenden Party anklopft, dann begrüsst man doch nicht die Gäste der ersten Stunde mit belehrenden Worten über die knappen Zeitressourcen, oder? Herr Seibert, nehmen Sie sich doch einfach genau die Zeit, die Ihnen dieses Twitter wert ist. Nur so, als zweiter Tipp.

Aber, wie gesagt, der Sprecher spricht lieber. Und wiederholt mit ungelenken Worten die „Informationen“, die man schon kennt á la „Eurogruppentreffen in Brüssel zu Ende“ (12.3.2011). Nicht erkennbar wird irgendein sprachlicher, inhaltlicher oder gar literarischer Ehrgeiz bei Platitüden wie „Deutschlands Kurs stimmt“ (1.3.2011) oder „Autofahrer haben Recht auf Information“ (4.3.2011). Ach, und die Liegeradfahrer? 

Oder, um es auf ökonomisch zu sagen: Nicht erkennbar wird, welcher Mehrwert hier für irgendeinen Folger produziert wird. Fühlt man sich, wenn schon nicht literarisch verzückt, so doch wenigstens besser oder „aktueller“ informiert? Ich habe dieses Gefühl nicht, ehrlich gesagt. Ist ja auch kein Problem, ich muss ihm ja nicht folgen. Ich frage mich aber trotzdem, was 9.830 Menschen (Stand heute, 18.3.2011) an diesen Tweets „interessant“ finden. Nunja.

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Zum ersten Mal bekam der offizielle @RegSprecher eine eigene, menschliche Stimme am 10.3.2011. Ausgerechnet der große (!) Zapfenstreich für den fabelhaften Herrn Guttenberg sorgte dafür (!).

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„Berührend“, doch, ja.

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Aber ab und zu kuckte ich doch einmal vorbei, beim @RegSprecher, aus wissenschaftlichem Forschungsinteresse, genau, und, ähem, einem langsam erwachenden „Interesse“ an einer charmant-polemischen Abhandlung dieser Causa und überhaupt allem, was so nervt.

Zum Beispiel diese Sache mit dem Dialog und der „zeitfrage“. Bisher hat der @RegSprecher, wenn ich richtig zähle, in 79 Tweets immerhin sechsmal andere Twitterer direkt angesprochen. Sicherlich freundlich und absolut souverän, wie man es eben von einem gestandenen Journalisten erwarten kann, oder? Gleich nach dem Zapfenstreich war es soweit, der @RegSprecher antwortete @TaBu1974:

Seibert_zementiert

Was für eine Frechheit!

Lieber Leser, kennen Sie @TaBu1974? Ich kenne sie nicht und ich möchte fast behaupten, der Sprecher kennt sie auch nicht. In ihrer Twitter-Bioline steht „Politikwissenschaftlerin M.A.“, sie zählt vier (!) Follower, folgt selber acht Leuten. Offensichtlich steht Frau @TuBu1974 also noch ziemlich am Anfang ihrer Twitterkarriere. Insgesamt hat sie fünf, nunja, relativ unspektaktuläre Tweets produziert. Nummer drei ist die oben abgebildete kleine polemische Volte gegen den Gefühlsausbruch des Sprechers. 

Ausgerechnet diese Volte also nimmt der Sprecher zum Anlass, erstmals einer Twitterin direkt zu antworten. Via Ferndiagnose attestiert er ihr ein „zementiertes Weltbild“ und eine Unfähigkeit zur „Veränderung“ (?), leicht abgefedert durch drei hochironische (?) Pünktchen am Satzende. Insider-Gag oder tatsächliche Empörung?

Sie lenken also, Herr Seibert, ich bin wieder in der Direktansprache, tatsächlich die Aufmerksamkeit Ihrer 9.830 Folger auf eine Twitter-Neubiene, um sie als offizieller Sprecher der deutschen Bundesregierung öffentlich als „zementiert“ und „unfähig“ abzukanzeln?

Das würde ich anders machen. Tipp Nummer 3. 

(Und was sagen eigentlich die 9.830 Sprecher-Folger dazu? Ende der Klammer).

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Der zweite öffentliche Dialog:

Seibert_zynisch

Herr @willichnich schreibt einen sarkastischen Tweet und wird als „zynisch“ zurechtgewiesen. Tipp 4 als Hausaufgabe: Finden Sie bitte den Unterschied.

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Dass der @RegSprecher auch anders kann, wenn die Zeit es zulässt, zeigt er bei seiner vierten Antwort, seinem 71. Tweet insgesamt, wenn ich richtig zähle. Hier ist sie:

Sprecher_beck

Der Unterschied dieses Mal: Der Sprecher antwortet erstmals einem prominenten Twitterer: @VolkerBeck hat ebenfalls eine halbpolemische Frage gestellt. Und bekommt eine hochseriöse Antwort, allenfalls das „Lieber“ könnte man noch als klitzekleine ironische Übertreibung lesen, im Sinne eines „Mein Lieber“ oder „Sie mal wieder“. Aber schon ok, man kennt sich, ist nicht unbedingt immer einer Meinung (in der Atomfrage), aber schätzt sich durchaus. Das lese ich aus diesem Mini-Dialog jedenfalls heraus.

Herr Seibert, üben Sie doch diese souveräne Pressekonferenz-Freundlichkeit gegenüber jedermann! Mein Tipp Nummer 5.               

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Wie komme ich überhaupt dazu hier Tipps zu geben? Habe ich denn etwa Twitter besser „verstanden“ als der Regierungssprecher? Natürlich nicht. Twitter ist eben genau das, was wir daraus machen.

„Schreiben gegen das Ozonloch“, mein erster Versuch über Max Goldt, damals.

Griffel
Goldt_1
Goldt_2

Gerald Fricke: Schreiben gegen das Ozonloch. Max Goldt – zweiter Versuch; in: Griffel, 2/1995, S. 48 – 51.

Und überhaupt mal, Tusch und so: Mein erster auf feinem Papier gedruckter Text. Im „Griffel“, dem „Magazin für Literatur und Kritik“, im Christo-Sommer der Reichstagsverhüllung 1995 von Frank Schäfer und Rüdiger Wartusch frisch gelaunt und flott geföhnt gegründet. Heute würde ich das Stück anders schreiben, „gewiss“, weniger altklug-jungakademisch im Ton, hoffentlich, ahaberst …

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nunja, irgendwie gefällt mir die humortheoretische Aussage dieser Rundum-Grundanalyse immer noch, abzüglich einiger rhetorischer Girlanden, vielleicht, aber hey! Vor allem gefällt mir das Teil „vor dem Hintergrund“, um mal den altklugen germanistischen Sound wieder aufzugreifen, dass sämtliche zumindest mir bekannten Texte über Max Goldt traditionellerweise und hartnäckigst und immer noch in drei Kategorien fallen, zu fallen haben: Bescheuert, vollbescheuert und vollbescheuert, doof und am Thema vorbei. Dazwischen gibt es natürlich noch einige Schattierungen, „wir wollen nicht ungerecht sein“ (Sound wieder on).

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„Ich durfte von Beginn an dabei sein“ (Demut on), als Rezensent der Herzen für Politik und Sport und Komik und Neue Frankfurter Schule und Bla und Sonstiges. Neben Max Goldt waren Bücher von Eugen Egner, Gerhard Henschel, Nick Hornby, Michael Rudolf, Robert Gernhardt oder Groucho Marx immer gern gesehen. Doch ja!

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Den „Griffel“ gab es noch bis 2001, erst war er rot, dann blau und immer gut in der Hand liegend.