Historische Texte (29): „Momentum“ – Persönlichkeiten bei der „Denke“

Gegen die Standarddenke!

Das kreativste Buch der „zwei kreativsten Persönlichkeiten“ in 1,7 Sekunden

Von Gerald Fricke

 „Die durchschnittliche Betrachtungsdauer einer Anzeige beträgt 1,7 Sekunden. Das mag erschrecken“, sinnieren Holger Jung und Remy von Matt. Doch auch die „Zeitspanne vom letzen Schlag Muhammad Alis im ‚rumble in the jungle‘ bis zur Ankunft von George Foremans Kopf auf dem Ringboden betrug 1,7 Sekunden. Fast dreißig Jahre später ist dieser Moment aus Millionen Köpfen nicht gelöscht. In der modernen Kommunikation geht es nicht darum, aus 1,7 Sekunden 2,7 Sekunden machen zu wollen“, sondern darum, Platitüden und Ressentiments zu einem … Aber lesen wir weiter: „Es geht vielmehr darum, die 1,7 Sekunden zu einem nachhaltigen Aha-Erlebnis zu machen, das bis zur nächsten Markenwahl hält. Die Hamlet-Frage der Werbung“, ohje, „lautet nicht mehr: Auffallen oder durchfallen? Impact war zwanzigstes Jahrhundert. MOMENTUM IST DIE KRAFT, DIE WERBUNG HEUTE BRAUCHT.“

Keine 1,7 Sekunden braucht es wohl, um Tante Hertha (19. Jahrhundert) mit diesen und ähnlichen Aha-Erlebnissen und Hamlet-Fragen schwer zu begeistern. „Momentun“ ist der vorwitzige Parvenü, der Aufsteiger, der sich nicht damit begnügt, seine zwei, drei Lebensweisheiten aufs Häkeldeckchen zu sticken, nein, nein, für diesen großen Wurf muss ein veritabler Ziegelstein her, mit 350 dicken Karton-Seiten, auf denen viele Bilder und einige Buchstaben, die allerwichtigsten gern im begriffsstutzigen GROSSDRUCK, zeigen, dass „Jung von Matt“ es geschafft hat. Seht her, Audi, Sixt, Cinemaxx, Bahn, alles kreativ und effektiv und voller Momentum. Immer herrlich aufgekratzt und immer im sicheren Hafen des Mainstreams spielt unser Affirmationskapellchen.

Ungefähr 1,7 Stunden braucht es für Leseschwache mit Lesebrille, das Manifest durchzublättern, aber Jung von Matt mussten sogar ihre „Wochenenden und Urlaubstage“ dafür hergeben, das „Gelernte aufzuschreiben und weiterzugeben“; denn jeder der beiden nimmermüden „zwei kreativsten Persönlichkeiten der Werbebranche“ (!) hatte „hundertsechzig Seiten pünktlich abzuliefern“, wie uns Vor-, Nachwort und Klappentext die Schattenseiten des kreativen Schreibens vor Augen führen.

Werbung muss dies und das, integrativ wirken, provozieren, aber nicht zuviel, kreativ sein, aber auch effektiv; jaha, die effektivste Werbung ist nämlich die kreative, „Planer“ und „Kreativer“ müssen sich gegenseitig respektieren, ahja; gute Werbung schleicht sich als trojanisches Pferd in unsere Köpfe. Da sollten wir doch besser nicht mit einer Standarddenke an die Werbung, oder besser: die „Kommunikation“, rangehen, oder? Richtig. „Falsch ist die Standarddenke in der Kommunikation“, so lesen wir gebannt, hinterfragen unsere Standarddenke und staunen wie der Sozialarbeitersound der achtziger Jahre im kreativen Epizentrum Deutschlands Eingang gefunden hat. Neben der vielzitierten „Denke“ geht es, natürlich, im „Wettbewerb pur“, um die „Verkaufe“ und „Vorverkaufe“. Da kann man auch mal Benjamin und Bourdieu heranziehen und eine ominöse „Kritik der Urteilskraft“ von „Kant, E.“ zitieren. E wie E-mmanuel?

Aber, genug der Einwände, hörma uff mit den Schlaumeiern. „Immer wieder haben wir in unserer Laufbahn Kollegen erlebt, auf die die folgende Steigerung zutraf: gescheit, gescheiter, gescheitert“, hehe, so ist das nämlich!

Holger Jung/Jean-Remy von Matt: Momentum. Die Kraft, die Werbung heute braucht, Lardon Media, Berlin 2002. 351 S.

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